Liebe

 

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Liebe

von Josef Schwarzkopf
Überarbeitet 1999, Urfassung viel früher
letzte redaktionelle Veränderungen 23.8.2008


Möwen kreischten, das Meer knallte gegen den Strand, der warme Wind ließ mich vor Kälte fast erfrieren. Zurück ließ ich meine eigenen Spuren, einmalig in den Sand getreten, Schritt für Schritt verfolgt von meinen eigenen Spuren. Muscheln lagen zertreten im Sand, ringsherum wahllos verteilt. Der Mond schob sich bedrohlich hinter einer Wolke hervor, verschwand sobald wieder und machte der schwarz leuchtenden Nacht platz.

Gedankenloses Denken, das Spiel mit den Begriffen, mit den gelernten Prinzipien. Ich war ein halbes Ganzes, ließ meine andere Hälfte irgendwo hinter eisigen Mauern zurück, vergessen. Doch der andere Teil ging mit mir, wie grausam, dabei hätte ich ihn genauso gern zurück gelassen.

Flucht. Flucht, vor wem? Ja, ich floh, meine müden Knochen schleppten mich mit dem Wind davon. Aber man hielt mich fest, ich konnte mich dem "Ungeheuer" nicht entziehen, es hielt mich gefangen. Es war mein anderes Ich, meine andere Hälfte, die noch immer lebte. Hatte ich vielleicht angenommen, ich würde diesen ungewollten Kampf gewinnen, würde dieses Katz-und-Maus-Spiel gewinnen?

Das Gesuchte gefunden, das plötzliche Angebot bedingungslos angenommen, und es mit einer Bezeichnung bezahlt; vielleicht sollte ich so meine jetzige Situation beschreiben. War es nicht immer der starke Druck vor einer verschlossenen Eisentür, habe ich nicht immer gewartet, das da einer kommt, der diese Eisentür aufstoßen würde? Und dahinter suchte ich den von mir schon angebeteten Namen, den ich leider falsch definierte (innerlich freilich). Wurde dieses Wort, dieser Name, nicht plötzlich zum Befehl, zu einer Aufforderung? Bestimmt, aber ich hatte wahrscheinlich den Sinn nicht richtig verstanden: Liebe!

Sie tat mir leid, eine kümmerliche Kreatur auf einer verlassenen Bank, ausgerechnet mir in den Weg gestellt. Sie jammerte, als ich wortlos an ihr vorüber ging.

Aber da war noch jenes unbeschreibliche Gefühl - ich muss lachen - jenes Gefühl des Zu-ihr-hingezogen-Seins, wenn ich es so ausdrücken darf.

Ich trat an sie heran, langsam hob sie ihren Kopf: Blondes langes Haar, ein wenig kraus, blaue Augen, und ein zartes Gesicht.

"Was ist?" fragte ich fürsorglich. Mehr Worte fielen mir nicht ein. Ich hatte vielleicht Angst, mit jedes weitere Wort ein nicht existierendes Geheimnis aufzudecken. Alles totalen Schwachsinn. Blöder Gedanke, nun mit dieser Fremden auf einer Bank zu sitzen. Oder war es doch ein Gefühl der inneren Zufriedenheit, endlich einen Menschen helfen zu können.

Es fiel mir gar nicht schwer, ihr zuzuhören. Nach wenigen Minuten des stillen Kennenlernens begann sie ihre Geschichte zu erzählen. Es war die Geschichte eines "verdorbenen" Mädchens, die Geschichte einer artigen Person, die ihre Eltern und dann ihr Selbstbildnis verloren hatte. Während sie erzählte sah ich Tränen. Mit einem Taschentuch trocknete ich ihr die Tränen aus den Augen.

Marina war knapp 17 Jahre, vielleicht auch älter. Ein Mädchen zwischen nichts, hinter ihr war keine Vergangenheit, die sie nicht vergessen wollte, vor ihr war auch eine Zukunft, die es wert war, nicht erwähnt zu werden. Und dann kam der Märchenprinz, rein zufällig auf den Weg gesetzt, auf dem die Bank mit dem Mädchen platziert war.

Ich nahm sie mit zu mir nach Hause. Und alles nahm seinen Lauf, wie in den meisten Spielfilmen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Es war eigentlich alles ganz lieblich, richtig romantisch, als die Kerze auf dem Nachtschränkchen flackerte, und wir uns auf der Bettkante Geschichten erzählten, von denen ich nur noch Bruchteile behalten hatte..

Hatte ich nicht einmal gedacht, Liebe müsse wachsen, sie brauche Zeit, sie muss Stein für Stein aufgebaut werden? War ich es, der einmal sagte, Liebe sei wesentlich mehr als Sex - viel mehr? Sollte auch ich es gewesen sein, der mal behauptete, Liebe sei das innere Verständnis, das Aufeinander-abgestimmt-Sein, ein Absolutes, ein Unzerstörbares, ein Grenzenloses, das nicht mehr danach fragt, ob man den anderen richtig behandelt? Ich stelle mich.

Ich wollte meine Liebe zu einem Menschen zu einer Hymne machen, zu einer unvergesslichen Legende. Ich wollte den anderen verstehen, sein Leben mitleben, in seiner Welt Mitbewohner sein, wollte sie lieben, diese Welt. Gelerntes vergisst man schnell, oder habe ich nach meinem Prinzip gehandelt, als ich mit ihr schlief? Habe ich ihre Welt erlebt, als ich den Bruchteil derselben streifte?

Wir trafen uns, wir redeten miteinander, man sprach eins, zwei Worte - und wir nannten es schon Verstehen. Wir redeten weiter, man erzählte sich, man redete mittlerweile schon drei Worte - und wir nannten es Vertrauen. Und wir sahen, das es gut war. Und dann - na, ja, es gab sich halt so im Laufe des Abends, während das Flämmchen auf meinem Nachtschränkchen flackerte, wir gingen ins Bett - und wir nannten es Liebe.

lch stand am Fenster und starrte in den kommenden Morgen. Der Wind wehte leicht ums Haus. Leise hörte ich das Meer gegen die Wellenbrecher schlagen. Im Kerzenschein sah ich dich, als ich zurückblickte, halb zugedeckt, kaum die Blößen versteckend. Du sahst mich schweigend an. Ja, ich hatte eine Gänsehaut, zitterte am ganzen Körper.

Ich sah wieder hinaus in die Dunkelheit, im Fenster sah ich ihr Spiegelbild, das Flackern der herunter gebrannten Kerze. Dann sprach ich in Gedanken: ,,Du, Marina, ich will nicht einer von vielen sein!"

Die Antwort war Schweigen, Sekunden langweilten sich dahin, und jeder Augenblick wurde zu einem Kampf gegen das Verlorene. Schließlich stand sie nach mehreren Atemzüge auf, zog sich an und ging. Tränen sah ich auf ihren Wangen.

Das Zimmer wurde zur Wüste, Einöde umhüllte meine Seele, Tränen flossen unaufhaltsam meinen Wangen entlang. Ich floh, raus aus diesem von Liebe verseuchten Raum, hinaus in die Schwere des herankriechenden Morgens. Möwen kreischten, das Meer knallte gegen den Strand, der warme Wind ließ mich vor Kälte fast erfrieren. Undeutlicher meine Spuren im warmkalten Sand, Schritt für Schritt wurde ich von der Einsamkeit verfolgt; nur nicht stehen bleiben, sie könnte schneller sein als ich. Ein unsinniger Gedanke: Hat sie meine andere Hälfte nun mitgenommen, oder hat sie sie in dem Zimmer zurückgelassen? Eigentlich gleichgültig, ich war nur noch ein halber Mensch - und nur dies zählt als Ganzes... komischer Satz und falsch.

Pia. Was wollte sie dort unten am Strand? Warum war sie plötzlich da? Wie von Geisterhand gesteuert, gleichsam wie jeder Augenblick meiner letzten Stunden, stand sie plötzlich vor mir. Sie stand einfach da und sah mich fragend an, ja fragend. Sie machte mir Angst, diese Gelassenheit, als wäre nie etwas gewesen, als könnte ich jetzt mein Leben beginnen. Nein, sie machte mich traurig, diese Ironie in ihrer Gestalt. Ich könnte, wenn ich in den letzten Stunden fest geschlafen hätte, auf sie zugehen und sagen: ,,Hallo, schön, dass du gekommen bist. Lasst uns ein wenig den Strand entlang gehen!" Statt dessen kann ich nur schweigen.

Dann kam sie zu mir und fragte: „Was ist?" Ich lachte und zugleich heulte ich.

Wenn ich es dir sage, würdest du es nicht verstehen", redete ich - lächerlich. Dann fügte Ich hinzu: ,,Oder verstehst du, warum das Meer so knallt, anstatt zu rauschen; warum die Möwe über mir nicht nur schreit, sondern kreischt. Und wenn du mich nicht gehen lässt, wenn du mich aufhältst, werde ich von der Einsamkeit eingeholt."

Rücksichtslos ging ich weiter.

© Text: Josef Schwarzkopf (Homepage: www.behinderte-leidenschaft.de)