Wenn Rollstühle fliegen bekommen

 

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Wenn Rollstühle
Flügel bekommen

von Josef Schwarzkopf
Urfassung 1998
letzte redaktionelle Veränderungen 26.8.2008


Als ich sie sehe, sitzt sie in einem Sessel, und es kommt mir natürlich nicht in den Sinn, über ein Leben nachzudenken, das ich noch nicht kenne, das möglicherweise vor mir liegt.

Sie wird mir von einem Herrn vorgestellt, der möglicherweise ihr Vater ist. Er sagt nur ihren Namen. Ilona.

Ich reiche ihr die Hand, natürlich so ruhig wie es eben geht, ihre Hand zittert ein wenig, als sie sie mir entgegenstreckt.

"Angenehm", sagt sie lächelnd.

Das Zittern ihrer Hand war keineswegs Anlass, darüber nachzudenken; ich habe es auch kaum registriert. Ilona hat blonde Haare, ein gut aussehendes Gesicht, bemerke ich beiläufig, während ich mich ebenfalls an den Tisch setze.

Der gute Herr, der, wie gesagt, ihr Vater sein könnte, bietet mir eine Cola an.

Ich suche meinen Strohhalm vergebens..

Ich nehme das Glas Cola, welches er mir vor mir auf den Tisch stellt, dankend zu Kennt­nis. Ich trinke nicht, noch nicht, will nicht von vornherein andeuten, dass ich beim Trinken meine Schwierigkeiten habe.

Ich schaue in die Runde. Gut, ich hätte mich weiterhin mit Ilona unterhalten können, aber was gibt es da zu erzählen. Vielleicht, dass ich eigentlich gar nicht hier sein wollte, dass mich meine lie­ben Eltern mitgeschleppt hätten? Das ist mir zu blöd. Außerdem könnte Ilona die Tochter des Veranstalters sein.

Ich versuche zu trinken. Immer wieder eine Prozedur ohne Stroh­halm. Ilona beobachtet mich, ich fühle mich zu sehr beobachtet, kann das Glas nicht ruhig halten, zu doof dafür. Dann passiert's, mir kippt das Glas aus der Hand, Cola überschwemmt den Tisch, das Kleid meiner Tischnachbarin (gegenüber von Ilona) wird in Mitlei­denschaft gezogen. Mir ist es peinlich.

Ilona lacht.

Die andere Frau ist aufgesprungen, versucht mit einem feuchten Ta­schentuch noch das zu retten, was zu retten ist.

Ich entschuldige mich.

Sie meint, sei nicht so wild.

Der gute Herr, es ist nicht ihr Vater, was ich so nebenbei mitgekriegt habe, bringt mir ein neues Glas; er hat gleich einen Strohhalm mit­gebracht. Ich weiß nicht, warum ich vorher nichts gesagt habe.

Ich mache mehrmals klar, dass mir alles ziemlich leid tue.

Ilona findet alles komisch.

Ihr Lachen nervt.

"Kein gutes Bild, was du von dir zeigst", sagt sie und lacht aber­mals.

Ich reagiere nicht. Ich finde sie äußerst grausam.

Die Frau mit dem Colafleck im Kleid, noch dazu an einer ungünsti­gen Stelle (da wo es je­der sehen kann) kehrt aus dem Bad zurück. Mir ist alles sehr peinlich.

"Du brauchst dir keine Sorgen zu machen", bemerkt Ilona. Ich wun­dere mich. "Ich weiß, wie du fühlst, guter Mann mit unbekanntem Namen; da0 kommt man zu einer Party, will sich benehmen, und dann geht es in die Hose eh ins Kleid..."

Wieder lacht sie. „Wie heißt du?“

"Ich heiße Sven", entgegne ich.

"Auch keine Lust, hier zu sein", erkennt sie.

Ich gebe ihr Recht. Sie wird mir sympathisch.

"Ich habe viel mit Behinderung zu tun", redet sie.

Wieso sagt sie das? Ich möchte nicht darüber sprechen.

Doch sie redet weiter: "Es ist sowieso sinnlos, seine Schwächen zu verstecken. Siehst du, meine Hand..."

Es gelingt ihr nicht, ihre Hand mehrere Sekunden lang ruhig zu halten.

"Davon gibt es viele", sage ich.

"Und", entgegnete sie, wieder dieses merkwürdige Lächeln, "sind sie alle behindert."

Ich schüttle den Kopf.

Sie lächelt. "Trink erst einmal etwas!"

Ich trinke.

"Du bist nervös."

Gut, wer ist das nicht, wenn er mehrere Augenpaare auf sich gerichtet hat. Sie hat längst erkannt, dass mir ihre Anwesenheit nicht mehr ganz gleichgültig ist. Wie sollte sie es auch. Selten kommt ein Behinderter in der Gunst, das Interesse einer nicht behinderten jungen Dame, die sie ja ist, unmittelbar zu erfahren.

Ihr Lächeln stört.

"Ich will hier raus", sagt sie plötzlich. "Möchtest du mit mir gehen, ich meine, mich begleiten."

Ich nicke.

"Holst du aus dem Flur meinen Rollstuhl, der müsste unter der Treppe stehen."

Ich muss wohl ein recht komisches Gesicht gezogen haben, denn sie kriegt sich nicht wie­der ein vor Lachen. Ich weiß nicht, was mir alles durch den Kopf geht, denn diese Art von Humor kenne ich noch nicht. Und sie lacht.

Schließlich lache ich auch.

Letztlich ist ihr das gelungen, was ich nicht geschafft habe, eine Behinderung zu verber­gen. Warum soll man sich auch über einem Men­schen, der sitzt, Gedanken machen, ob er laufen kann oder nicht? Ich bin Spastiker, mir sieht man meine Behinderung an, leider, aber ich muss damit leben. Ich kann laufen. Sie kann keinen Schritt tun, sie ist auf ihren Rollstuhl angewiesen.

Ich hole ihn, ihren Rollstuhl, unter der Treppe, den ich schon ge­sehen habe, als ich das Haus betrat, allerdings habe ich nicht darüber nachgedacht. Sicher, das Gefährt mit den zwei großen und den zwei kleinen Rädern kenne ich, denn ich habe Freunde, die im Rollstuhl sitzen.

Sie kann sich selbst in den Rollstuhl setzen, sie stützt sich nur auf die Tischkante ab, ich halte den Rollstuhl fest, damit er nicht zurück rollt. Ich schiebe Ilona durch die Terrassen­tür nach draußen. Sie weist mir den Weg.

"Endlich Ruhe", meint sie, "mir ging schon das billige Blablabla der feinen Gesellschaft auf den Keks. - Wie finden Sie das Kleid von Fräulein Wunderbar? Und Hassenichgese­hen sieht heute auch ele­gant aus. Pfarrer Göttlich hätte doch zu so einem Anlass wenig­stens eine Krawatte tragen können. Frau Lieblich hat Bauch bekommen, man munkelt sie erwartet ein Kind vom alten Aufunddavon."

Ich muss lachen.

"Das einzige, was auf einer solchen Party gut ist, ist das Buf­fet."

"Wie kommst du eigentlich hierher?"

Sie erzählt, dass Herr Lorenz, ein Freund meiner Eltern, der am heutigen Tag seinen 50. Geburtstag feiert, rein zufällig ihr Onkel väterlicherseits sei. "Und ich hasse diese Art von Familienfeiern, zumal mein Neffe, den ich besonders mag, zur Zeit auf Klassenfahrt in Berlin ist."

Das Haus der Lorenz, ein umgebauter Gasthof, ist im Tal irgendwo südlich von Mün­chen gelegen. Wir kommen aus Augsburg. Ilona lebte mit den Eltern am Rande der Al­pen, irgendwo, so sagte sie, an einem kleinen See.

Auch hier gibt es einen See: Es ist noch warm, als wir unten beim See ankommen. Ein einsames Se­gelboot läuft in den Hafen ein. Wir hören das Lachen einer Frau, die mit ei­nem Mann auf dem Boot ist.

"Was mögen die beiden machen?" fragt sich Ilona. "Ich meine, so spät am Abend und allein auf dem Wasser."

"An was denkst du?" erkundige ich mich.

Sie lächelt.

"Ich denke", rede ich, "sie haben diesen schönen Sommerabend ge­nossen, haben ein we­nig geträumt."

"Meine Eltern sind übrigens der Meinung, ich würde nie Sex mit einem Jungen haben", sagt sie plötzlich.

Ich sehe sie überrascht an.

"Ich glaube, dass die beiden auf den Boot keinen Sex gehabt haben."

Sie lacht.

Ich denke nach.

Dann sagt sie: "Ich habe es nicht auf die beiden im Boot bezogen. Ich glaube auch nicht, dass die beiden Sex haben; es sind Wellen, die das Boot zum Schaukeln bringen. Ich ha­be es nur so gesagt. Meine Eltern können sich nicht vorstellen, das Behinderte miteinander schlafen."

"Warum nicht."

"Man müsste es ausprobieren", denkt sie. "Manchmal wünsche ich mir jemanden, der es mit mir macht, einfach so, ohne Liebe. Ich weiß nicht, wie das ist, wie sich so ein Orgas­mus anfühlt."

Ich lächle.

"Hattest du schon mal einen Orgasmus? Ich meine bewusst."

"Ein nettes Gespräch", stelle ich fest.

Sie starrt auf das Wasser des Sees. Man hört die lachende Gesell­schaft. "Ich mag Seen..."

"Du hast recht", meint sie auf einmal. „Ich weiß nicht, warum ich das fragen konnte. Ich nehme diese Frage zurück."

Ich sage nichts.

"Ach, was ist das blöd. Ich kenne dich kaum. Und alles was ich wissen will ist, ob du schon mal einen... das ist zu doof."

Ich ziehe die Bremsen des Rollstuhls und stelle mich vor dem Rollstuhl.

"Ich befriedige mich häufig selbst", erzähle ich.

Sie lacht.

"Ich fasse es nicht", erwidere ich verblüfft, "ich hätte nie ge­dacht, dass ich's so schnell jemanden erzähle. Und ausgerechnet einer zweistündigen Bekanntschaft erzähl ich's, und sie lacht."

"Ich finde dich echt in Ordnung", meint sie dann und rollt weiter entlang des Sees.

Ich folge ihr.

"Weißt du", sagt sie, "ich denke oft daran."

"Woran?", will ich wissen.

"Einen Freund zu haben", sagt sie.

"Du hast gute Chancen", rede ich.. "Du bist schön, und wenn du sitzt, sieht man dir die Behinderung nicht an."

"Aber ich habe sie", erwidert sie, "und wenn ich angenommen werden will, dann so wie ich bin, als die Frau im Rollstuhl, nicht die Schöne, scheinbar Nichtbehinderte am Tisch, in der du dich ver­knallt hast." Sie schmunzelt.

"Ich habe mich gar nicht in die Nichtbehinderte am Tisch ver­knallt, sondern in Ihre Art, mich zu nehmen, wie ich bin. Und dann fasziniert mich die Art, mit welcher Leichtigkeit du mit deiner Behinderung umgehst, und dass du eine gesunde Offenheit hast."

"Und du?"

"Mir sieht man an, dass ich behindert bin, ganz gleich, ob ich laufe oder sitze", rede ich. "Und das ist der erste Eindruck, den ein Mensch von mir bekommt. Dass ich selbständig bin, dass ich Ideen habe und verwirkliche, dass ich eine normale Schulausbildung mit Hochschulabschluss habe, das sieht man nicht, daran denken die meisten nicht. Ich bin der Behinderte, der immer in einer Behin­derteneinrichtung lebt."

"Und, ist es nicht so?" fragt sie mit ihrem gewöhnlichen Grinsen.

"Ich bin Industriekaufmann", sage ich.

"Oh", tut sie, "sehr schön. Dass du das so schaffst. Ich bin ange­nehm überrascht."

Wir müssen lachen.

Plötzlich bemerkte sie: „Und wenn sie doch Sex haben...?“

„Wer?“

„Ja, die beiden dort im Boot. Es wäre doch ein reizvoller Gedanke...“

Es ist dunkel geworden und kühler, aber wir haben beide keine Lust, in die Gesellschaft zurückzukehren, deshalb versuchen wir die Kälte durch unser Gespräch zu unterdrücken.

Als wir schweigen, hören wir den Ruf einer Eule, das aus dem Wald kommt.

"Willst du nicht mal vorbeikommen?" fragt sie. "Ich glaube, dieser Abend ist viel zu kurz, um das zu sagen und zu leben, was wir zu sagen und zu erleben haben." Sie sieht mich dabei an, viel­leicht ein hintergründiges Lächeln, und doch der Ernst.

"Ich werde irgendwann einmal kommen!" sage ich und bin glücklich.

„Und wenn Du 'kommst', dann denke auch mal an mich“, scherzte sie. Sagte dann ernsthaft: "Es muss nichts sein, es kann sein - Freundschaft..."

Ich verstehe sie nicht ganz.

"Warst du mal verliebt?" fragt sie nach einer Weile. "Sicher, du warst verliebt, jeder gescheite Behinderte war einmal verliebt, und jeder Trottel wie ich, ist fast ständig ver­liebt."

"Du hast recht", sage ich, "wir sollten uns zusammentun, auch ich gehöre zu diesen Ständigverliebten. Diese Krankheit, in jedem halbwegs gut aussehenden Mädchen die Erfüllung erotischer Träume zu entdecken."

Wieder kriegt sie sich nicht ein vor Lachen. "Wir sollten uns nicht mehr sehen", meint sie plötzlich, "wir sind zwei Gestalten, die das gleiche suchen, die tierisch nach sexueller Vereinigung suchen."

Ich schiebe sie weiter.

"Bist du in mich verliebt?" will sie nun wissen, nebenbei bemerkt, vier Stunden nachdem wir uns zum ersten Mal gesehen haben. "Ich würde es sein werden, würden wir uns öf­ters sehen werden. Und da­bei weiß ich nicht, ob es allein um des Verliebtseins ist, allein um des Gefühls willens, dich näher kennen zu lernen, sondern allein we­gen des Abenteuers, das daraus entstehen könnte."

"Du bist verrückt", sage ich. "Du bist nichts anderes, als total verrückt."

"Ich liebe es, verrückt zu sein. Es ist die Entschuldigung dafür, das zu tun, was nicht gesellschaftlich ist. Wenn ich dich nun küs­sen werde oder würde, dann weniger deshalb, weil wir uns in irgend­einer Form lieben könnten, sondern weil es für meine Eltern nicht gesellschaftlich ist, sich nach vier Stunden Phase des intensiven Ken­nenlernens einen Kuss zu ge­ben."

Ich umarme sie und küsse sie, ganz kurz, ein Kuss des Küssens we­gen, weniger der Lie­be.

"Ich habe gehört, dass ein Zungenkuss scheußlich ist", erzählt sie.

"Ich habe davon geträumt, dass ein Mädchen, das ich gut kenne, mit dem ich gut befreun­det bin, mich auf diese Weise küsste. Wir fanden es beide schrecklich."

"Diese ständige Angst, der andere könnte zubeißen", lacht sie. "Es fehlt mir noch das Vertrauen zu dir, um meine Zunge in deinen Mund zu schieben."

"Du bist mir sehr ähnlich, Ilona, weißt du das? Du bist genauso verrückt und normal wie ich. Du machst wohl auch immer das, was dir Spaß macht."

"Nicht immer", erwidert sie, "denn mein Gott hat mir körperliche Grenzen gesetzt. Naja, was ich nicht kann, male ich mir aus. Ich kann halt nicht immer da sein, wo ich sein möchte. Und meine El­tern sind auch nicht immer da, wo ich sie haben möchte, bei mir oder weg..."

"Wie spät ist es?" frage ich.

"Ein Blick zur Sonne verrät mir, dass es Nacht sein muss", sagt sie.

"Sehr witzig..."

Es ist halb zwei. Als wir uns dem Haus näherten, ist alles so merkwürdig still.

"Die feine Gesellschaft hat sich wohl schon verabschiedet", stellt sie fest. "Mein Vater wird mich bestimmt sehnsüchtig erwarten."

Es sind unsere beiden Eltern, die noch mit dem Ehepaar Lorenz zusammen sitzen und auf uns warteten.

"Wir haben auf dich gewartet, Ilona."

"Ich war mit Sven am See", entgegnet sie. "Wir hatten einen schö­nen Abend, nicht wahr, Sven?"

Ich schweige.

Obwohl Herr Lorenz uns noch überreden will, noch ein Stündchen zu bleiben, trennen wir uns. Während der ganzen Autofahrt ist es still. Mutter fährt.

Sie ist schon eine bemerkenswerte Person, diese Ilona. Ich weiß nicht viel von ihr, aber das, was ich weiß, ist einiges. Naja, traurig bin ich schon, hätte ich doch noch stundenlang mit ihr reden können.


Erst am nächsten Morgen, ein sonniger Sonntagmorgen, bemerkt Mutter ganz beiläufig, dass Familie Koch Ferienwohnungen vermietet. "Ja", kommt es von meinem Vater, "und wir wurden eingeladen, für eine Woche Gast dort zu sein."

"Dabei war das alles rein zufällig", übernimmt meine Mutter. Papa hätte sich ganz ange­regt mit Herrn Koch unterhalten, und beide stellten erst nach einiger Zeit fest, dass sich die beiden bei einem Kongress in München in den Englischen Garten abgesetzt haben.

"Es war wirklich Zufall, dass gerade in einer Woche diese Wohnung frei ist, weil Leo", so der Vorname von Herrn Koch, "die Renovierung bereits ein Monat früher abgeschlos­sen hatte."

"Freust du dich?" fragt Mutter.

Natürlich freue ich mich, aber nicht so, dass ich es unbedingt zeigen müsste. Schließlich zielt die Frage darauf, und ich kenne meine Frau Mama, ob ich mich auf Ilona freue. Si­cher, aber mehr auch nicht; sie sitzt schließlich im Rollstuhl...


Ilona hat mich nicht angerufen, obwohl ich die ganze Woche darauf gewartet habe.


Wir reisen mit dem Zug an, worüber ich mich wundere, denn war unser Auto nicht das Ein und Alles meiner Mutter. Gut, Herr Koch erwartet uns am Bahnhof.

Wie es mir ginge, will er wissen.

Ich sehe mir die schöne Gegend an. "Gut."

Ilona habe sehr oft von mir geredet, erzählt er. Ich fühle mich nicht vergessen.

Das Wiedersehen - nach einer ganzen Woche - kommt wie immer anders, als ich mir vorgestellt habe: Ilona, die ich an der Tür erwartet habe, kommt erst nach einer halben Stunde aus ihrem Zimmer, nachdem ich die Begrüßerei meiner und ihrer Eltern miterleben musste. Ilona gibt sich sehr verhalten, die meinerseits erwartete Freude auf ein Wiedersehen ist nicht zu erkennen. Statt dessen entschuldigt sie ihr spätes Auftreten mit der Bemerkung, sie ha­be uns nicht gehört und sei sehr beschäftigt gewesen.

Nach dem Abendessen in lustiger Runde, bittet mich Ilona, sie bei ihrem abendlichen Spaziergang bzw. Spazierfahrt zu begleiten.

"Ich habe nachgedacht", sagt sie, als ich sie ins Freie fahre, "soll ja vorkommen. Ich habe oft über uns, konkret über dich und mich, nachdenken müssen. Wollte dich anrufen, aber erst war es mein innerer Schweinehund, der sich nicht überwinden ließ, dann ungünstige Gelegenheiten, die mich abhielten."

"Ich habe, ehrlich gesagt, einen Anruf erwarte", erwidere ich. "Auch ich erfand besagte Umstände, die mir die Nutzung des technischen Kommunikationsmittels versagte."

"Wir haben nie so richtig über uns gesprochen", stellt sie fest.

"Ja richtig. Was machst du eigentlich?" frage ich.

"Ich lerne Bankkauffrau", erwidert sie.

"Liegt nahe", bemerke ich.

"Ich glaube nicht, dass ich ein Leben lang Geld zählen möchte. Ich will Sexualberaterin werden. Ich suche erst einmal Erfahrungen..."

"So, so. Womit wir wieder beim Thema wären."

Nach kurzer Zeit gelangen wir zu dem See, wovon mir Ilona schon bei Lorenz ge­schwärmt hatte. Ich setzte sie auf dem Boden.

Sie legt sich nach hinten. "Es ist so herrlich, den Wind durchs Gesicht zu spüren. Ich se­he gern, wie die Sonne zwischen den Zwei­gen über mir glitzert, wie ein farbiger Ring darum erscheint. Dann mach ich die Augen zu, und alles wird so begreiflich..."

Ich lege mich neben sie, und sie strich mir übers Gesicht. "Die Menschen", redet sie, "die Menschen, so scheint mir, haben ver­lernt, die Natur erotisch zu betrachten. Alles ist so erregend, wenn man es fühlt, es mit seinem Körper, seinem nackten Körper wahrnimmt."

"Manchmal", sage ich, "stelle ich mir vor, nackt durch ein Feld zu laufen, einfach so, völlig nackt."

"Kitzelt das nicht...?“

Wir lachen.

„Die völlige Einswerdung mit der Natur", fährt sie fort. "Weißt du, manchmal, wenn es regnet, fahre ich hinaus. Dann lasse ich mich nass regnen, bis auf die Haut. Dann musst du mich mal sehen, wenn meine Bluse durchsichtig geworden ist."

"Gerne!"

Sie muss wieder herzlich lachen. "Und ich möchte dich gern sehen, wie du nackt durch Felder läufst."

"Manchmal", äußere ich mich, "manchmal denke ich, ich wäre per­vers, ich meine, meine Ideen, meine Träume, meine Gedanken. Und dann dieses Selbst-Befriedigen. Ich fühle mich plötzlich ganz an­ders danach. Ich denke völlig gegensätzlich über eine Sache; das, was ich vorher für normal, völlig natürlich gehalten habe, ist plötzlich pervers, plötzlich Sünde. Und ich mach´ es immer wieder, fast täglich."

"Ich sag´s ja, wir sind sexbesessene Bestien, die nur das eine wollen!"

"Vielleicht ist es auch die Tatsache, sonst keine sexuelle Erfül­lung zu bekommen, die selbst gemachte Torschlusspanik."

"Wer geht schon gern vom Berg, ohne den Gipfel erklommen zu ha­ben?" fällt Ilona ins Wort. "Naja, ein recht hinkender Ver­gleich."

Ich lache.

Auf einmal reden wir über Umweltprobleme. Ich weiß nicht, wie wir darauf kommen. Aber wir sind beide der gleichen Ansicht: Alles Scheiße.

"Es ist doch einleuchtend", spricht Ilona, "ausgehend von der Prämisse, dass Natur und Mensch eine Einheit bilden, bilden sollen, der Mensch sich selbst umbringt, wenn er die Natur als Teil von ihm tötet."

"Und Gott?"

"Gott lassen wir erst einmal aus dem Spiel, zumal ein nicht gerin­ger Teil mit ihm eh nichts anfangen können. Sobald ich nämlich an­fange, mit einer für den anderen eventu­ell fremden Religion zu ar­gumentieren, ist dieser möglicherweise weniger gewillt zuzuhören. Ergo ist Gott zunächst einmal sekundär zu betrachten. Die Natur zu wahren heißt, ein menschliches Leben, ein Leben überhaupt zukünf­tig zu garantieren. Das dürfte in unser Interesse sein. Wem die Natur gleichgültig ist, der beschließt das Dasein insge­heim mit der jetzigen Generation, und er würde sich selbst widersprechen, Kinder in die Welt zu setzen!"

"Es ist sowieso schon ein Wagnis, ein Mensch in die Welt zu set­zen, dessen Zukunft nicht einmal gesichert ist", entgegne ich ihr. "Wir leben doch jetzt schon in eine Welt, wo Kinder zu Wegwerfware werden, wie Insekten zu Tode gequält."

"Ich weiß, und ich will nicht darüber nachdenken. Die Welt ist teilweise schrecklich. Lasst uns das Schöne betrachten, lasst uns leben, solange wir können, so egoistisch das auch klingen mag."

Wir schweigen einen Augenblick. Ein ungeschickter Segler fesselt unsere Aufmerksam­keit.

"Ja", beginnt sie, "ich möchte auch einmal mit einem Dreimaster segeln."

"Ich bin schon mal", erzähle ich. "Es ist ein phantastisches Erleb­nis, an der Ostsee bei Windstärke acht."

Sie sieht weiter nach rechts. "Siehst du dort den Sandstrand?" will sie wissen.

Ich sehe ihn.

"Dort bin ich gern. Schade, dass ich nicht schwimmen kann."

"Wieso?" frage ich. "Ich könnte es dir beibringen."

Sie lacht. Endlich lacht sie wieder. "Weißt du, in zwei, drei Ta­gen werde ich wieder kön­nen. Es sind rein biologische Gründe. Aber wenn du willst..." Sie sieht mich lächelnd an.

"Ich habe kein Schwimmzeug dabei", erwidere ich.

Sie weist auf das Handtuch, was sie hinten am Rollstuhl im Netz hat. "Nun?"

"Ich habe keine Badehose", rede ich.

Sie lacht. "Was braucht ein Mann wie du eine Badehose."

Ich schiebe sie zu jenem Sandstrand. Lust habe ich schon, denn mir ist warm, und so eine Abkühlung täte mir auch nicht schlecht.

"Ausziehen und hinein!" sagte sie mit einem tierischen Vergnügen. "Ich will sehen, ob du was an dir hast... ich meine schwimmmäßig."

Ich ziehe mich aus, und ich genieße es, wie sie mich mit ihren Blicken auszieht. Ich springe dann in den See.

"Du hast zwar keinen Traumkörper", sagt sie. "Aber immerhin ist er brauchbar."

"Wofür?" schreie ich aus dem Wasser.

"Zum Schwimmen natürlich!", ruft sie vom Ufer zurück. "Aber ich liebe nackte Männer."

Ich paddele ´ne Runde, wirklich, ich genieße diese Abkühlung, und ich genieße es, von ei­ner Frau beobachtet zu werden. Es stört mich keineswegs, dass ich nackt bin, denn ich liebe es, nackt zu baden, und ich mag es, wenn sie mich so sieht.

Als ich zu ihr zurück komme, lege ich mich neben ihr in den Sand.

Sie lacht. "Betiteln wir diese Story mit 'Der Nackte und die Schöne'. Du bist vielleicht ein kleiner Exhibitionist, der es ge­nießt, seine Nacktheit anderen, fast fremden Mäd­chen und Frauen zu zeigen." Sie lacht.

Wenn ich eines an Ilona mag, dann ist es ihre unverblümte, ehrli­che Direktheit. Sie liebt wie ich dieses Prickelnde, dieses Unge­wöhnliche. Ich bin nicht verliebt, keineswegs, ich mag sie, nicht mehr und nicht weniger.

Es wird kühl und ich ziehe mich wieder an. Dann schiebe ich sie langsam zurück zum Anwesen ihrer Eltern. Ich weiß nicht, ob man über unser Beziehung zueinander schon philosophieren sollten, sind es doch nur zwei Menschen, die vielleicht aufgrund ihres Schick­sals zusammengekommen sind, die Tatsache, zu den besonderen Men­schen, den Behinderten, zu gehören.


Abends schlafe ich schlecht ein, nicht weil mir das Einschlafen in fremden Betten sowieso schwer fällt, sondern weil mein Kopf voller Gedanken ist. Ich würde sie gern auch einmal nackt sehen. Und ich bin mir sicher, ich werde es, denn der Urlaub ist noch lang. Es war ein herrlicher Tag, denke ich, und ich werde sicher noch viel Spaß mit Ilona haben. Manchmal doch noch der Gedanke, warum es keine Nichtbehinderte sein kann, würde das doch alles so vollkommen machen, so perfekt, so unbehindert. Sicher, Ilona ist ein nettes und aufregendes Mädchen, völlig unproblematisch, aber sie sitzt in diesem gottverdammten Rollstuhl. Es wäre so schön, mit ihr über Wiesen zu laufen, in Winden zu toben, wie gesagt nicht behindert von all den Regeln und Sinnigkeiten eines behinderten Menschen. Ich vergesse häufig meine Behinderung, meine äußerlich schwer zu nehmende Erscheinung, die selbst ich kaum ertragen würde, wenn ich sie ständig sehen müsste. Aber es lässt sich nichts ändern, es bleibt dabei, ich bin und bleibe mein Leben lang - und wenn es mein einziges ist - behindert.


Ilona ist gut aufgelegt am nächsten Tag, wir haben schon während des Frühstücks, das wir draußen vor dem „bescheidenen“ Haus einnehmen, sehr viel Spaß. Doch ihre Scherze schockieren mich später immer, dann wenn ich darüber nachdenke und ich nicht weiß, ob sie es auch als Scherz gemeint hat.


Ilona und ich gehen auch an diesem Tag spazieren. Sie liebt wie ich die Natur, besonders die unberührte, vollkommene Natur.

„Wir lieben viel, was es gar nicht mehr gibt“, sagt sie. Ich muss lächeln, doch verstehe ich diese Traurigkeit. Doch dann lachte sie und rief: „Alles ist Sexualität.“

„Da unten gehen Menschen“, bemerke ich.

„Ja“, wiederholt sie, noch betonter, und noch lauter, „alles ist Sexualität! Alles hat den Drang, sich zu vermehren, zu überleben; die Blumen, die ihren Blütenstaub mir nichts dir nichts einfach so in die Weltgeschichte blasen; die Tiere, wie sie von ihrem Trieb bedrängt an nichts anderes denken, ein anderes, gleichgesinntes zu besteigen, um spaßiger weise ein neues Leben zu gewinnen. Und der Mensch? Ein Vernunft geplagtes Wesen, dass die Sexualität zu einem lustvollen, liebevollen, triebhaften und doch wieder verdorbenen Akt ansieht, die der mühevollen Rechtfertigung bedürfe.“

Ich kann nur staunen. „Ah ja...“

„Selbst, wenn wir auf die Idee kämen, es hier und jetzt miteinander zu tun“, sagt sie, „würden wir einen Grund finden, es nicht zu tun. Sicher, es kann nicht sein, dass jeder mit jeden tierischer weise miteinander schläft, aber selbst, wenn wir uns liebten, täten wir es nicht, hier und jetzt. - Es ist einfach zu kalt dafür...“

Ich, der ich mich schon in wer weiß was für Vorstellungen befand, bin ein wenig erleichtert, dass sie einen Grund gefunden hat. Ich lache, obwohl ich es nicht sehr kalt finde...

Sie erzählt mir dann, dass sie es liebte, wenn sie mit dem Rollstuhl einen abfälligen Weg hinunter rollen könne. „Ich habe nur ein kleines Problem“, sagt sie, „ich weiß nicht, wo und vor allem wie ich da unten bremsen soll.“

Ich lasse sie los.

Ilona rollt mir davon. Sie lacht. Nur fliegen sei schöner, schreit sie und fügt noch hinzu: „Abgesehen von Sex.“

„Du kannst wohl an nichts anderes denken“, bemerke ich, während ich hinter ihr herlaufe.

„Ich denke, wir sollten es ausprobieren.“

„Stimmt“, sage ich schmunzelnd, „ich bin noch nie geflogen...“

„Da vorne ist eine Kurve“, erkennt Ilona.

„Bist du schon mal geflogen?“

„Nein, und ich habe auch kein Lust, es jetzt auszuprobieren. Die Tragflächen meines Rollstuhls sind nicht gerade geeignet.“ Sie lacht, sie schreit. „Juchhe, ich fliege!“

„Nicht so laut!“

„Ich will so laut fliegen wie ich will!“ schreit sie. „Jetzt will ich nackt sein!“

„He?“

Sie lacht. „Ich will den Wind zwischen meinen Brüsten spüren.“

„Ich mag deine Träume...“

Ich bin hinter ihr, halte sie jedoch noch nicht. Ich hoffe nur, dass die kleinen Räder nicht zu flattern beginnen, denn dann würde sie eventuell doch noch zu einem Flug kommen. Dann kann ich den Rollstuhl doch nicht mehr halten, versuche ihn noch ins Gras zu lenken, wo er nach vorne herüber kippt. Ich schmeiße mich davor, so dass Ilona auf mich drauf fällt. Sie rollt ein kleines Stück den Berg hinunter, ich rutsche nach und halte sie fest. Sie lacht.

Wir sehen uns an. Wir liegen beide im Gras uns sehen uns an. Lachen wird zu einem komischen, urkomischen Gefühl. Da muss was sein zwischen uns.

„Wenn du jetzt was sagst“, mahnt sie, „dann scheuer ich dir eine!“

Sie nimmt meinen Kopf und zieht ihn an sich heran, sie küsst mich, so wie mich noch keine geküsst hat; mich hat noch keiner geküsst... Es ist wie Ostereier unterm Weihnachtsbaum oder so. Ich bekomme kaum Luft und mir ist ganz warm dabei, sie lässt mich nicht mehr los, immer noch hat sie ihre Arme krampfhaft um meinem Kopf gelegt, den sie fest an ihren presst. Ab und zu schnappe ich seitlich nach Luft.

Als wir uns losgelassen haben und uns ansehen, als ob nichts geschehen wäre, fragt sie: „Hast du das öfters? Ich meine, können wir davon ausgehen dass zwischen uns etwas war, oder“, sie sieht mich erwartungsvoll an, „etwas ist?“

Ich lache. „Könnte sein.“

„Mein Gott, ich habe dich geküsst, ich meine Sven“, bemerkt sie. „Und ich philosophierte die ganze Nacht über unsere Beziehung. Ich wollte einen Nichtbehinderte, und was bekomme ich? Einen Zappelphilipp, der ebenso hilflos küssen kann, wie jeder andere.“

Ich verstehe nicht.

„Ich liebe dieses Hilflose. Womit soll ich dich vergleichen? Ich habe noch nie jemanden geküsst, und ich bin glücklich, mit dir testen zu dürfen. Ich mag dich. Ehrlich!“ Tränen wandern über ihre Wangen. „Und es war so... sooooo... schööööööööön...!“

Ich muss auch weinen und umarme sie.

„Manchmal“, redet sie, „will ich aufhören zu denken, aufhören zu reden und aufhören zu atmen, nur um den Augenblick zu erleben, zu spüren. Und ich liebe es, weinen zu dürfen, jetzt in deinen Armen.“

„Du, Ilona, als ich dich zum ersten Mal sah, habe ich mich verliebt. Ich hatte Angst, daran würde sich was ändern, als ich erfuhr, dass du auch einer von den 100%-igen bist, doch ich weiß jetzt, dass ich mich auch in Menschen verlieben kann, die sich rot/grün ausweisen* können.“ (Anmerkung: Der Behindertenausweis ist rot/grün)

Wir lagen lange auf der Wiese. Wir erzählten uns viel.

Ja, ich bin verliebt, und es ist nicht mehr das Gefühl des Kämpfen-Müssens, nicht mehr dieses unbefriedigte, herzzerreißende Gefühl des Haben-Wollens und nicht kriegen können. Ich werde geliebt. Immer wieder darüber nachgedacht, wie es ist, geliebt zu werden, einen Menschen zu wissen, der auf dich baut, der mit dir noch einiges vorhat. Und plötzlich schien diese unsichtbare und doch quälende, scheinbar unüberwindbare Mauer durchbrochen; ich bin nicht mehr behindert, ich sehe nicht mehr besoffen aus, ich bin normal, ich bin Mensch, ich werde gebraucht, weil ich geliebt werde.


Meine und ihre Eltern wissen sofort, was los ist; schon abends beim Grillen spricht man von Liebe, meine Eltern sogar vom Heiraten. Wir lachen. Es ist schwer, ihnen das Gefühl zu vermitteln, es sei ja doch nichts zwischen uns.

Den nächsten Tag, ein wieder nicht so warmer Tag, verbringen Ilona und ich wieder draußen. Es ist ein schöner Tag. Wer sehen zum ersten Mal Rehe auf einer Wiese. In der Nähe sei ein Hochsitz, bemerkt sie.

Ihre Eltern sind am Morgen für zwei Tage nach Hamburg gefahren. Aber das stand schon länger fest. Da wir da sind, brauchten sie für Ilona keine Betreuung organisieren. Doch als wir abends zurückkommen, stehen meine Eltern fix und fertig abfahrbereit.

„Was ist?“ will ich wissen.

„Dem Opa geht es sehr schlecht“, antwortet mein Vater.

„Wir müssen zurück“, sagt Mutter. „Aber du kannst hier bleiben, du musst auf Ilona aufpassen.“

Ilona meint: „Aufpassen ist gut...“

Mein Vater erzählt, er habe Leo (das ist immer noch ihr Vater) schon gesprochen; das ginge in Ordnung, Ilona sei alt genug.

Ilona fragt sich leise.: „Wofür?“

So verabschiede ich mich ganz plötzlich von meinen Eltern, die mit dem Taxi abgeholt werden.

Ilona rollt ins Wohnzimmer, ich folge ihr.

„Er war schon mal dem Tode nah“, sage ich. „Er hat einen Herzfehler.“

„Es scheint schlimm zu sein“, denkt Ilona. „Er ist der Vater deiner Mutter, nicht?“

Es ist der Vater meiner Mutter. Sie schien sehr aufgelöst zu sein. Ja, sie hat mir mal gesagt, sie liebe ihren Vater sehr.

Nun sitzen wir da, sie im Rollstuhl, ich im Sessel, vor uns läuft das Fernsehen.

„Es wird wohl nicht so schlimm sein“, rede ich und küsse sie. „Ich gehe schon mal ins Bett.“

„Du bist langweilig“, lacht sie, „ich komme gleich, um dir gute Nacht zu wünschen.“

Ich ziehe mich aus und gehe ins Bett. Ich denke an Opa. Komisch, gerade jetzt denke ich an Großvater.

Dann denke ich an Ilona, ich warte auf sie, dass sie kommt, um mir einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Ich bin nackt, ich schlafe häufig nackt, außer im Winter, wenn es kalt ist.

Gegen elf kommt sie ins Zimmer gerollt. Sie hat eine Flasche Sekt und ein Wasserglas auf ihrem Schoß liegen.

„Störe ich?“ fragt sie. „Diese Frage ist rein formell, ich bitte, sie nicht ernsthaft zu überdenken.“

Ich richte mich auf, so dass ich im Bett sitze und bemerke: „Ich sehe, der Gute-Nacht-Kuss soll ein recht umfangreicher werden.“

Sie zuckt die Schultern. „Ich weiß nicht.“

Sie stellt das Glas auf den Nachtschränkchen neben dem Bett, macht wie gekonnt die Flasche Sekt auf und beginnt einzuschenken. „Du würdest eh plempern“, bemerkt sie. Ich widerspreche energisch und weise darauf hin, sehr wohl in der Lage zu sein, ein Glas ohne zu plempern mit Flüssigkeit zu füllen. Sie holt zwei Strohhalme aus der Tasche, steckt sie in das Glas und sagt: „Naja, ist zwar nicht so stilvoll wie zwei Sektgläser, aber aus einem Glas mit zwei Strohhalme zu trinken ist einfach reizvoller, und in einem Wasserglas passt halt mehr rein.“

Ich lache.

Na dann, auf uns und auf das, was da kommen wird...“, sagt sie und geht zum Strohhalm. Auch ich trinke. Dann küssen wir uns. Die Bettdecke zieht sich ein Stück zurück.

„Oh“, meint sie lächelnd und sah mich musternd an, „wie ich sehe, hast du schon abgelegt.“

„Ich schlafe häufig nackt“, sage ich.

„Wie reizend“, erwidert sie und zieht sich die Bluse übern Kopf, zwei kleine zierliche Brüste kommen zum Vorschein.

Ich merke, dass mir warm wird, wahrscheinlich erröte ich ein wenig. „Was hast du vor?“

Ihr sei heiß, meint sie. Mein Herz beginnt wie wild zu pochen. Zahllose Gedanken eilen mir durch den Kopf.

„Auf diese Nacht“, sagt sie und zieht erneut an ihrem Strohhalm. Dann öffnet sie langsam ihren Gürtel.

Ich sehe verlegen zum Boden.

„Kopf hoch“, fordert sie, „das ist doch erst der Anfang...“. Sie stemmt sich hoch und bittet mich, ihre Hosen auszuziehen.

Ich grinse, mir ist heiß, dann helfe ich ihr. Da sitzt sie nun, splitternackt in ihrem Rollstuhl.

Wieder trinkt sie einen Schluck Sekt. „Das haut rein.“

Ihre Hand streicht mir durchs Gesicht. Dann geht sie über meine Brust langsam hinunter zu meinem Glied, das sich schon leicht aufgerichtet hat. „Ich will es! Willst du es auch?“ Mit der anderen Hand führt sie meine Hand über ihren Körper, über ihre Brüste, über ihre Wangen zurück bis hinunter in ihrem Schoß, wo sie meine Hand zwischen ihre Schenkel führt.

In mir kocht das Blut. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich weiß nicht, ob ich das will.

„Hebst du mich herüber ins Bett?“, wünscht sie sich, „ich möchte bei dir bleiben.“

„Du, Ilona...“, rede ich, sie aber streicht mit ihrer Hand über meinem Mund. Ich stehe auf, mein Glied ist steif, während ich sie aus dem Rollstuhl hole und sie vorsichtig in das Bett lege. Sie hat noch in ihrem Rollstuhl ein kleines Päckchen ergattert, das sie nun in ihrer Faust verborgen hält.

„Ich möchte jetzt mit dir schlafen“, sagt sie.

Ich gehe ein wenig im Zimmer auf und ab.

„Was hast du?“ fragt sie. „Oder denkst du darüber nach, wie du mir klarmachen sollst, dass dir dieses fehlt...? In diesem Moment hält sie ein Kondom hoch. „Vertrau mir. Ich habe das ganze schon durchdacht...“

Ich lache. Ich fühle mich erleichtert. „Ich will es auch...“

Schließlich lege ich mich zu ihr aufs Bett, streichle sanft über ihren Körper. Eine ganze Zeit lang bin ich damit beschäftigt, ihren nackten Körper zu erforschen, der einfach schön ist. Während sie da auf dem Rücken liegt, vergesse ich den Rollstuhl.

Dann legt sie sich auf dem Bauch, streichelt über meinen Körper.

Es vergehen Stunden, und doch nur Minuten, und doch das Gefühl, nie genug davon zu haben.

Sie rollt sich wieder auf den Rücken, nun gehe ich mit meinen Händen über ihren Körper, dann als ich an ihren Füßen bin, sie mit meinem Kitzeln zum Lachen bringe, gehe ich mit meinem Mund über ihren Körper: die Beine entlang, ihre Schenkel, über ihr Becken, über ihre Brüste bis hin zum Kopf. Ich legte mich langsam auf sie. Ich habe Angst, ihr weh tun zu müssen. Ich liege lange regungslos auf sie.

„Du“, rede ich außer Atem, „ich weiß nicht...“ Ich versuche, mich irgendwie zu bewegen, und mir wird schwindelig. Ich bleibe still, erfahre das Gefühl, in ihr drin zu sein. Ich verweile, fange an zu genießen.

„Komm', ich will es wissen“, flüsterte sie mir ins Ohr.

Ich bewege mich. Ich fühle, wie ein atemberaubendes Gefühl in mir aufkommt, fühle, wie es kommt, dann der Orgasmus, zig mal erlebt, und doch nie so, nie in den Armen einer Frau. In diesem Moment vergesse ich alles. Dann sehen wir uns an. Ich sehe ihr an, sie ist noch nicht soweit, und ich scheine am Ende zu sein. Ich will sie nicht enttäuschen, ich bewege mich, sitze auf sie drauf. Sie stöhnt. Ich höre mich kaum.

Dann sagt sie: „Hör´auf.“

Ich liege wieder regungslos. Ilona streichelt mir sanft übers Haar. Ich küsse sie.

„Ich will, dass du noch in mir bleibst“, sagt sie. Ihre Hand gleitet über meinem Po. „Irgendwann werden wir es zusammen erleben. Ich fühle mich wohl. Es war schön.“

Eine Zeit lang später ziehe ich mich zurück, stehe auf und gehe durchs Zimmer. Ich fühle mich irgendwie so versaut, alles erscheint mir plötzlich so abartig. Ich fange an zu frieren.

„Komm“ , sagt sie.

Ich lege mich wieder neben sie.

„Das Leben geht weiter“, bemerkt sie. In diesem Moment klingelt das Telefon. „Auch ohne uns“, meint sie. „Lass es klingeln!“

Meine Hand liegt zwischen ihren Beinen.

Das Telefon hört nicht auf zu klingeln.

„Lass klingeln“, sagt sie. „Um diese Zeit ruft sonst nie einer an.“

Der unbekannte Anrufer gibt auf.

Wir liegen nebeneinander.

„Weißt du“, redet sie, „ich habe gelesen, dass viele Frauen eher zum Orgasmus kommen, wenn sie es selbst tun.“

„Sollte mich das beruhigen.“

„Ich habe es einfach genossen, und es ist ein schönes Gefühl, dich zu spüren, dich in mir zu spüren!“

„Aber ich wurde befriedigt, du nicht....“

„Es freut mich“, sagt sie, „dass ich dich befriedigen durfte, dass ich es spüren durfte, dass ich bei dir war... bei dir bin.“

„Ich fühle mich dennoch so anders“, sage ich.

„Wie?“

„Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ob ich es gewollt habe“, erkläre ich.

Sie lächeln mich an, streichelt mir durchs Gesicht und meint: „Es ist nicht endgültig. Hauptsache, du hattest Spaß; ich hatte ihn. Ich habe es gewollt, ich wollte mit dir schlafen, nicht nur wegen dem Sex, sondern auch, weil du mir etwas bedeutest.“

Ich küsse sie.

„Ich mag dich“, sagt sie. „Ich möchte heute Nacht bei dir bleiben. Es ist so nett in deinem Bett. Und so ganz nackig, einfach 'affentitengeil'.“

„Das ganze ist ein Wahnsinn“, rede ich. „Vor wenigen Tagen hätte ich nie gedacht, dass ich so schnell mit einem Mädchen Sex haben könnte.“

„Und es funktioniert... Bei mir wird 's auch mal hinhauen mit dem Orgasmus, wir müssen nur lang genug trainieren.“

Ich fühlte mich so unendlich wohl. „Wann wirst du es deinen Eltern sagen?“

„Bitte? Was?“

„Ich meine, dass es funktioniert, dass du mit einem anderen Sex haben kannst...“

Sie lächelte und meinte: „Reich mir das Telefon. Ich werde ihnen sagen, dass ich gerade beiläufig Sex hatte und dass es meiner Behinderung nicht geschadet hat. - Nur das Bett müsste mal wieder bezogen werden...“

Wir reden noch lange, bis sie in meinen Armen einschläft. Durch die Roulade drang das Licht des Mondes ins Zimmer, ich sah im Dämmerlicht den Rollstuhl.


Wir werden geweckt durch das Telefon. Ich küsse Ilona wach. Ich solle gehen, sagt sie, sie sei noch nicht angezogen. Ich spaziere in das Wohnzimmer – bin auch noch nackt – und nehme den Hörer ab: „Hier bei Koch!“

Es ist mein Vater. Er habe gestern Abend schon versucht, bei uns anzurufen. Mein Großvater ist tot.

Ich bin doch betroffen, und während ich zurück in mein Zimmer gehe, denke ich darüber nach, dass ich am Abend keinen Gedanken mehr an Opa verloren haben, zu sehr war ich mit Ilona beschäftigt.

Als ich ins Zimmer komme, erkennt Ilona sofort, was los ist. Ich setze mich zu ihr auf das Bett. Sie hört mir zu, wie ich von meinem Opa erzähle.

„Du“, sagt sie, „das ist Leben, die einen genießen das Leben, die Liebe, die Leidenschaft, und andere sterben. Ich denke, dein Opa wäre sicherlich erfreut gewesen, wenn du bei ihm gewesen wärst; aber ich glaube, er wird es dir nicht übel nehmen, wenn er erfährt, dass du mit mir Sex hattest. Ich glaube, ja, ich glaube der Tod ist so etwas wie Vereinigung, wie ein Höhepunkt, wie die Liebe. Ich liebe dich.“

Ich stehe auf, gehe zum Fenster, und fühle die warme Sonne auf meiner nackten Haut. Ich erinnere mich, wie ich Opa das letzte Mal gesehen habe, es war im Krankenhaus, er strahlte eine unendliche Zufriedenheit aus. Er hat das Leben genossen, und er hat mir viel davon beigebracht. „Lebe, als sei es der letzte Tag; Liebe, als gäbe es in diesem Augenblick nur den einen Menschen; verabschiede dich, als würde nur der Vorhang fallen, das Leben aber weiter gehen...“ Ich drehe mich um, sehe wie Ilona noch nackt auf dem Bett sitze und ich sage: „Ich liebe dich auch! Und ich will dich, hier und jetzt und ewig...“


Ende

 

© Text: Josef Schwarzkopf (Homepage: www.behinderte-leidenschaft.de)